„Denn mein Volk hat eine doppelte Sünde begangen: Erst haben sie mich verlassen, die Quelle mit frischem Wasser, und dann haben sie sich rissige Zisternen ausgehauen, die das Wasser nicht halten.“ (Jer 2,13)

Sucht der Mensch nicht Gottes Hilfe, um seinen Mangel zu stillen, muss er andere Quellen finden. Sich von Gott, der lebendigen Quelle, zu trennen und stattdessen seine Ur-Bedürfnisse bei anderen „Göttern“ zu stillen, nennt die Bibel „Sünde“. Über diesen Begriff gibt es unterschiedlichste Vorstellungen. „Ich habe wieder gesündigt“, sagt die übergewichtige Person, wenn sie zu viel Schokolade gegessen hat. „Sünde ist, wenn ich lüge oder stehle“, denkt sich das Kind. „Ich habe noch nie jemanden umgebracht“, höre ich von selbstgerechten Menschen, die meinen, keine „Sünder“ zu sein. In der katholischen Kirche sind die sieben Todsünden zentral. Für andere Kirchen sind besonders sexuelle Sünden schlimm. Doch was ist Sünde wirklich? Sünde (gr. hamartia) bedeutet „Zielverfehlung“. Das Ziel ist Gemeinschaft mit Gott. Sünde ist, sich von Gott zu isolieren – sei es bewusst durch einen rebellischen Akt, durch die Verehrung anderer Götter oder durch Gleichgültigkeit. Sünde ist jede Form von selbst gewählter Unabhängigkeit von Gott. Wohin wendet sich der Mensch, wenn er nicht die Hilfe Gottes sucht? Falsche Quellen sind wie rissige Zisternen, die aus sich heraus kein Wasser haben. Das Wasser muss irgendwoher kommen.

Ungestillte Ur-Bedürfnisse verleiten uns dazu, rissige Zisternen zu graben. Dies ist ein Bild für Selbst-Strategien. Sie sind eine bestimmte, nicht offensichtliche Form von Sünde. Ich verwende den Begriff nicht synonym zu Sünden. Selbst-Strategien sind zwar Sünden, aber es ist eine ganz bestimmte Art von Sünden. Das Heimtückische an Selbst-Strategien ist, dass sie vernünftig erscheinen (sonst würden wir sie nicht ausprobieren) und scheinbar Gutes hervorbringen (sonst würden wir nicht daran festhalten), aber in einer Katastrophe enden.

„Wer sich nur auf sich selbst verlässt, den erwartet der ewige Tod. Wer sich aber durch den Geist Gottes führen lässt, dem wird Gott das ewige Leben schenken.“ (Gal 6,8)

Durch Selbst-Strategien leben wir die Unabhängigkeit von Gott aus. Ihnen liegt in erster Linie eine sündhafte Motivation zu Grunde. Was ich tue, muss nicht falsch sein, aber der Grund warum ich es tue, ist losgelöst von Gott.

Was das „Selbst“ ist, darüber werden philosophische und tiefenpsychologische Dispute geführt, auf die ich hier nicht eingehen werde. Ich verwende den Begriff „Selbst“ in dem Sinn, dass der Mensch ohne Gott auf sich selbst bezogen und autonom ist. Das Selbst agiert, als wäre es ohne Gott lebens- und handlungsfähig. Es ist das, was ich von mir selbst denke, ohne Gottes Sicht von mir zu berücksichtigen. Das Selbst braucht Selbst-Bestätigung. Wer ich aber wirklich bin, kann mir nur Gott bestätigen.

Was ist eine Strategie? Sie besteht darin, sich zielgerichtet auf den Weg zu machen und dafür Methoden und Fähigkeiten zu entwickeln. Wir finden den Begriff „Strategie“ nicht in der Bibel. Er wird aber oft umschrieben mit der bildhaften Bezeichnung „Weg“:

„Wir alle irrten umher wie Schafe, die sich verlaufen haben; jeder ging seinen eigenen Weg. Der Herr aber lud alle unsere Schuld auf ihn.“ (Jes 53,6)

Frei übersetzt: „Wir alle meinten zu wissen, was gut und richtig ist und machten uns große Illusionen. Wir wählten unsere eigene Strategie, um ohne Gott durchs Leben zu kommen. Diese Schuld trug Jesus für uns am Kreuz.“ Getrennt von Gott sucht der Mensch eigene Wege, seine Ur-Bedürfnisse zu stillen. Jeder Mangel führt dazu, dass wir uns entweder an Gott wenden oder Selbst-Strategien entwickeln. Ohne Gottvertrauen sind ungestillte Ur-Bedürfnisse tickende Zeitbomben. Der Druck der Umstände zwingt uns scheinbar, Selbst-Strategien zu entwickeln, um mit dem Leben zurecht zu kommen. Das ist mit Ängsten verbunden.

Jemand übernahm das Geschäft seines Vaters. Die Arbeitsbelastung diktierte von da an sein Leben. Unter diesem Druck überschritt er immer wieder seine Grenzen bis zum Burnout. Hätte es keinen anderen Weg gegeben? Im Gespräch über seine Familiengeschichte wird klar: Er fühlte sich seinem Vater gegenüber verpflichtet. Leistung war das, was zählte. Einen anderen Weg sah er nicht. Im Innersten sehnte er sich nach der Anerkennung seines Vaters. Wie wäre sein Lebensweg verlaufen, wenn er die Anerkennung durch seinen himmlischen Vater gesucht und gefunden hätte?  Das Merkmal seiner Strategie war Leistung. Genauso gut kann aber auch Sozialkompetenz oder irgendein anderes Persönlichkeitsmerkmal dazu führen, dass wir versuchen, uns das selbst zu erarbeiten, was uns letztlich nur Gott geben kann.

Sind Leistungsbereitschaft und Sozialkompetenz nicht gute Eigenschaften? Doch, aber die Frage ist: Wozu bin ich leistungsbereit oder sozialkompetent? Warum habe ich mir diese Charaktereigenschaften angewöhnt? Was ist mein Ziel?